Fast die Hälfte unserer Gene kann Ausgangspunkt für Krankheiten sein. Wissenschaftler haben 11.000 Gene identifiziert, die im menschlichen Genom in Varianten vorkommen, die Krankheiten verursachen können. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie in Plön und der Harvard Medical School haben untersucht, warum solche Hochrisikogene im menschlichen Genom bestehen bleiben, anstatt durch Selektion eliminiert zu werden. Ihre Analysen legen nahe, dass die kontinuierliche Anpassung an neue Krankheitserreger im Laufe der Evolution die Vielf alt unserer Immungene erhöht hat, aber auch ihren Preis hat. Diese Diversität erstreckt sich laut den Forschern auch auf benachbarte DNA-Abschnitte, wo sie zur Persistenz schädlicher Genvarianten führt.
Vielf alt im Erbgut ist etwas Gutes: Sie hat es uns Menschen ermöglicht, uns im Laufe der Evolution an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Eine solche genetische Vielf alt erzeugt mit jeder neuen Generation vielfältige Kombinationen und kann Überlebensvorteile mit sich bringen. Neben den vielen Varianten, die keine oder sogar positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben, gibt es auch andere, die ihre Träger anfällig für bestimmte Krankheiten machen.
Diese schädlichen Genvarianten stellen einen Überlebensnachteil dar und hätten daher im Laufe der Evolution durch natürliche Schnitte ausgemerzt werden müssen. Stattdessen haben einige Hochrisiko-Genvarianten, wie die für die Alzheimer-Krankheit oder Krebs, lange Zeit in der Bevölkerung bestanden, ohne zu verschwinden.
Eine Gruppe von Forschern unter der Leitung von Tobias Lenz und Shamil Sunyaev hat dieses Phänomen untersucht und Hinweise darauf gefunden, dass das Auftreten schädlicher Genvarianten der Preis sein könnte, den wir für die ansonsten für unser Überleben äußerst vorteilhafte genetische Vielf alt zahlen. Sie analysierten eine Gruppe von Proteinen des Immunsystems, die dabei helfen, fremde Moleküle zu erkennen. Die Gene für diese Proteine enth alten viele variable Stellen und kommen in einer Reihe alternativer Formen in der Bevölkerung vor. Diese Vielf alt sorgt dafür, dass unser Immunsystem ein breites Spektrum an Krankheitserregern erkennen kann.
Eine besondere Form der Selektion bewahrt diese Variation innerhalb der Gruppe der Immunproteine: Wissenschaftler bezeichnen sie als balancierende Selektion. Sie entsteht beispielsweise, wenn mehrere alternative Varianten eines Gens einen Überlebensvorteil verleihen und daher nicht selektiert werden.
Schädliche Mutationen gehen nicht verloren
Die Wissenschaftler vermuten, dass eine ausgewogene Selektion manchmal auch zur Erh altung schädlicher Genvarianten führen kann. Am Beispiel von Genen des Immunsystems führten sie Computersimulationen verschiedener Arten der Selektion durch. Dabei entdeckten sie, dass eine ausgewogene Selektion nicht nur die Diversität von Immunproteinen erhöht, sondern auch benachbarte DNA-Abschnitte beeinflusst. Dort reduziert es zwar die Gesamtzahl der variablen Stellen, erhöht aber die Häufigkeit, mit der diese Varianten in der Bevölkerung vorkommen – auch wenn sie schädlich sind.
Dann verglichen sie die Simulationsergebnisse mit Daten aus einer genetischen Analyse von 6.500 Personen. Und die Analyse bestätigte ihren Verdacht: Wie in der Simulation traten weniger variable Stellen in unmittelbarer Nähe der Gene des Immunsystems auf; die verbleibenden Varianten, einschließlich schädlicher Mutationen, waren jedoch relativ häufiger in der Bevölkerung.
Schädliche Gene können sich daher der natürlichen Auslese entziehen. „Ich hatte erwartet, dass eine höhere Resistenz gegen Krankheitserreger zu einer Anhäufung einiger schädlicher Mutationen führen könnte. Aber das Ausmaß, in dem solche Mutationen in der Bevölkerung bestehen, hat mich wirklich überrascht. Es wäre interessant zu wissen, wie viele genetische Krankheiten beim Menschen zurückverfolgt werden können.“mit Krankheitserregern in Kontakt zu bringen, denen wir im Laufe unserer Evolution begegnet sind", sagt Tobias Lenz, Gruppenleiter am Max-Planck-Institut in Plön und Mitglied des neu gegründeten Kiel Evolution Center.
Im nächsten Schritt wollen die Forscher untersuchen, ob ausgleichende Selektionen an anderen Stellen im Erbgut dafür verantwortlich sind, dass schädliche Genvarianten so häufig in der Bevölkerung vorkommen.